über verena stefan
Verena Stefan ist 1947 in Bern geboren und wuchs bei ihren Grosseltern auf. Sie gehörte zu den Mitbegründerinnen von «Brot und Rosen» und lebte einen Feminismus, der in seiner Form und intellektuellen Ausprägung damals neu war.
Nachdem sie 1975 ihr Debüt «Häutungen» herausbrachte, der mit einer halben Million verkaufter Exemplare ein grosser Erfolg wurde, setzte sie sich immer wieder mit den transgenerationalen Bewegungen im Feminismus auseinander, etwa 1993 im Buch «es ist reich gewesen», worin sie anlässlich des Todes ihrer Mutter und in der Form eines fiktiven Gesprächs die unterschiedliche Lebensweise zweier Generationen von Frauen analysiert. Es folgte ein reiches Werk an Gedichtbänden, Übersetzungen oder literaturgeschichtlichen Abhandlungen.
2014 erschien «Die Befragung der Zeit», ein autobiografischer Roman, worin Verena Stefan die Geschichte ihres Grossvaters erzählt, der 1949 in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden war. Ihm wurde vorgeworfen, illegale Abtreibungen vorgenommen zu haben.
«Fremdschläfer» schliesslich wurde ihr letztes Buch, das zu Lebzeiten erschien. Darin zeichnet sie ihre eigene Krebserkrankung auf und findet nochmals eine neue Formsprache dafür, wie insbesondere der weibliche Körper auch in der Sprache Festschreibungen erfährt – und wie man sich ebendiese Sprache aneignen, sich ihrer ermächtigen kann.Sie erhielt dafür einen der Literaturpreise des Kantons Bern.
Ab 2000 lebte Verena Stefan in Montréal, wo sie 2017 verstorben ist. Bis heute – und heute mehr denn je – beziehen sich Nachfahrinnen, Wissenschaftlerinnen, Leserinnen auf Verena Stefan, Autorinnen wie Ruth Schweikert oder Jessica Jurassica nehmen den Reichtum dieser Sprache auf, nehmen Verena Stefans Gesprächsangebot an und setzen den Dialog fort.
verena stefan über den erfolg von «häutungen»
Eines Tages, wahrscheinlich war es irgendwo in der Bay Area, begegnete ich einer Frau, die mit einem offenen Notizbuch auf den Beinen hinterm Haus in der Sonne sass. Sie trug ein Karohemd und Shorts, lebte von sehr wenig Geld in einer Wohngemeinschaft abseits vom Mainstream und strahlte mich glücklich an: «Ich schreibe ein Buch!»
Sie hatte keinerlei Zweifel an ihrem Vorhaben. Eine begeisterte Jungautorin kennenzulernen, war damals gar nicht so ungewöhnlich. Viele Feministinnen schrieben in den späten Sechzigern, frühen Siebzigern ihre ersten Bücher. Wir bezogen Wissen und Kraft aus demselben Energiefeld, das jeder von uns eine unverwechselbare Stimme und eine bis dahin unbekannte Perspektive auf die Welt verlieh. Jede von uns schuf ein Universum, in dem sie darstellte, was für sie die kollektive Sicht der Frauen war. Das soll nicht heissen, dass es eine einheitliche Sicht der Dinge gab, ganz und gar nicht. Mit jedem neuen Buch taten sich ideologische Grabenkämpfe und Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Lagern auf. Jedes Buch war ein Wagnis, war ehrlich und brachte etwas in die Welt, das bis dahin nicht hatte existieren können. Wir schufen den Raum, damit es existieren konnte. Das passierte nicht in Studiengänge fürs kreative Schreiben. Es passierte, weil wir für einen kurzen Augenblick unter Gleichgesinnten lebten, die sich gegenseitig inspirierten und unterstützten.
Häutungen traf den wunden Punkt von Tausenden und Abertausenden wütender Frauen. Wir veröffentlichten es als erstes Buch in einem kleinen Frauenverlag, anfangs mit einer Auflage von 1500 Exemplaren. Die waren innerhalb eines Monats ausverkauft. Es gab noch keine Rezensionen. Wir waren überwältigt. Wir mussten immer und immer wieder nachdrucken.
Langsam bekamen die Medien Wind von der Sache. Das verstiess gegen alle etablierten Regeln des Kapitalismus: Ein Buch, geschrieben von einer völlig unbekannten Frau, veröffentlicht von einer Handvoll unbekannter Frauen, von dem im ersten Jahr siebzigtausend Exemplare verkauft wurden, und das war erst der Anfang.
Es war eine Ära ohne Computer, E-Mail, soziale Medien und Handys. Als es losging mit den Besprechungen, zog ich mich zurück. Es waren nur Printmedien, aber ich konnte die Kritik trotzdem nicht ertragen. Ich war kein Medienmensch und bin es auch heute noch nicht. Ich war eine junge Schriftstellerin (auch daran hatte ich meine Zweifel) und hatte etwas in die Welt gesetzt, das wie ein Flächenbrand um sich griff. Was hatte ich nur getan?
Ich war in meiner Persönlichkeit als Schriftstellerin und Lesbe noch nicht gefestigt. Alles war roh wie nach einer grossen Explosion. Häutungen hielt sich etwa dreissig Jahre lang auf dem Markt. Ich hatte etwas Unerhörtes getan. Striking. Es sorgte dafür, dass ich aus der Frauenbewegung herausragte wie eine Bohnenstange. Um mich tobten Konflikte, Neid, Ressentiments, Misstrauen, Verdächtigungen: Kann man das wirklich Literatur nennen? Etwas, das sich so gut verkauft, kann ja nicht viel taugen. Die Reaktionen von Medien, Feministinnen, Frauen, Männern, Freundinnen und Verwandten teilten sich in enthusiastischen Zuspruch und beissende Kritik, oder gar nichts – Schweigen.
Heutzutage denke ich auch Englisch über mein Leben als Schriftstellerin nach. Ich denke in einer Fremdsprache, ich wohne auf einem anderen Kontinent, ich erzähle einem anderen Publikum diese Geschichte. Ein Publikum ohne festzementierte Meinung über meine Bücher ist erfrischend. Es ist, als würde man sich in einer anderen Sprache in psychoanalytische Behandlung begeben und alles von der Seele reden. Gespenster und Dämonen tragen nicht dieselben Namen und haben dadurch auch nicht so viel Macht über mich. Dabei verstehe ich mein Leben als Schriftstellerin weder auf Deutsch noch auf Englisch. Ich verstehe seinen Ablauf, aber das ist etwas anderes. Ich habe nie wirklich herausgefunden, wie ich es fertiggebracht habe, Häutungen zu schreiben. Wie sich die Stimme dieses Buches Ausdruck verschafft hat. Unzählige Interpretationsversuche von Literaturkritikern und Literaturwissenschaftlerinnen haben die einfache Tatsache verdorben, dass sich eine Stimme Ausdruck verschafft hatte.
Auszug aus “Ein Riss im Stoff des Lebens”, S. 141-144
bibliographie
Werke
Häutungen. Autobiographische Aufzeichnungen, Gedichte, Träume, Analysen. Frauenoffensive, München 1975
Mit Füßen, mit Flügeln. Gedichte und Zeichnungen. Frauenoffensive, München 1980
Wortgetreu ich träume. Geschichten & Geschichte. Arche, Zürich 1987.
Es ist reich gewesen. Bericht vom Sterben meiner Mutter. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1993.
Rauh, wild & frei. Mädchengestalten in der Literatur. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1997.
Fremdschläfer. Roman. Ammann (Meridiane 115), Zürich 2007.
mit Chaim Vogt-Moykopf (Hrsg.): Als sei ich von einem anderen Stern. Jüdisches Leben in Montreal. Wunderhorn, Heidelberg 2011, ISBN 978-3-88423-356-6 (mehrere ausführliche Zeitzeugenberichte jüdischer Überlebender der Shoa).
Die Befragung der Zeit. Nagel & Kimche, Zürich 2014.
Ein Riss im Stoff des Lebens. Nagel & Kimche, Zürich 2021.
Übersetzungen
Adrienne Rich: Der Traum einer gemeinsamen Sprache. Gedichte 1974–1977 (mit Gabriele Meixner). Frauenoffensive, München 1980.
Monique Wittig: Lesbische Völker. Ein Wörterbuch (mit Gabriele Meixner). Frauenoffensive, München 1983.
Maureen Murdock: Der Weg der Heldin. Eine Reise zur inneren Einheit (Übersetzung der Gedichte). Hugendubel, München 1994.